Deutschlands totalitäre Tradition.

Die Politik ist unser Schicksal, der politische Fanatismus unser Fluch: Dies gilt besonders für Deutschland, dem Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten, in dem hintereinander zwei totalitäre Diktaturen herrschten. Die Fakten, wie es dazu kam, sind geläufig, aber nicht die Hintergründe. Im 19. Jahrhundert gerät die Politik in den Bannkreis der Ideologien. Sie werden zu Ersatzreligionen und vermitteln an ihrer Stelle einen Glauben, der die Gewißheit und Hoffnung, die auf der Welt zu erreichen sind, ständig überhöhen und übertreiben muß. Die Politik gerät zur Ideologie. Mehr noch: Die Ideologien beanspruchen vollständig und unumschränkt die Funktion und Bedeutung der Religion.
Heute wollen die Deutschen wieder so normal sein wie nur möglich, aber sie haben ein schwieriges Vaterland, wenn sie überhaupt eines haben. Fragen bleiben: Haben wir uns endgültig von politisch absurden Ideologien verabschiedet? Ist unser Kulturpessimismus, die Bruchstelle für politische Religionen, abgedichtet? Was haben wir aus unserer Geschichte gelernt? Was können wir aus unseren Erfahrungen beitragen, den clash of civilisations zu entschärfen und den religiös fundierten Fanatismus in berechenbares politisches Handeln umzuwandeln? Sind wir europäische Musterschüler oder empfinden wir das demokratische Europa als unsere politische und kulturelle Heimat? Haben wir gelernt, daß Politik ein Geschäft ist und kein Spielplatz, um kollektive Leidenschaften auszuleben?